THEOLOGISCHES WORT
... IST MAN VOR DEM ANTISEMITISMUS NUR NOCH AUF DEM MONDE SICHER?
„Der Frieden in seinen Höhen schafft, der schaffe Frieden über uns und über ganz Israel, und sprecht Amen.“
Liebe Leserinnen und Leser,
ich schreibe diese Zeilen als Christ, protestantischer Theologe und Pfarrer. Denn auch Christinnen und Christen stehen in einer unlöslichen und besonderen Solidarität mit Israel und dem weltweiten Judentum, wenn sie denn ihre Existenzgrundlage, die Heilige Schrift beider Testamente, wirklich ernstnehmen. Auch das Neue Testament ist zu großen Teilen „Urkunde jüdischer Glaubensgeschichte“, wie bereits der bedeutende Leo Baeck im Jahre 1938 formulierte.
„… der schaffe Frieden über uns und über ganz Israel“: Die Bitte um Frieden und Leben, das Trachten nach gedeihlichem Zusammenleben, nach Konvivenz, die Heiligkeit jeden Lebens - dafür steht jüdische Ethik und israelisches Selbstverständnis: „Wir reichen allen unseren Nachbarstaaten und ihren Völkern die Hand zum Frieden und zu guter Nachbarschaft und rufen zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe mit dem unabhängigen hebräischen Volk in seiner Heimat auf.“ So bezeugt es bereits die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel vom 14.05.1948.
Ich erspare uns allen, aus der Gründungscharta der Hamas von 1988 zu zitieren. Welch ein zerstörerischer, menschenfeindlicher, hasserfüllter, antisemitischer Ungeist, der aus ihr hervorquillt. Hass als DNA! Zivilisation auf der einen, Barbarei auf der anderen Seite. Hier die Feier des Lebens, dort die Anbetung des Todes und seiner Helfershelfer.
Bis zum 7. Oktober 2023 sagte ich mir oft, wie dankbar ich doch sei, in einer Epoche der Weltgeschichte geboren worden zu sein, in der ich den jüdischen und demokratischen Staat Israel als Heimstatt des Jüdischen Volkes miterleben dürfe, allen äußeren Gefahren zum Trotz: Die Verwirklichung der Vision Theodor Herzls, einen Ort in dieser Welt zu haben, wo es keine Schande sei, offen und ungeschützt jüdische Identität zu leben. Das zionistische Gründungsversprechen: nie wieder ein Massenmord an Jüdinnen und Juden im Land der Väter und Mütter, in Eretz Jisrael.
Nun bin ich, sind wir Zeugen des größten Pogroms seit der Shoa geworden. IM israelischen Kernland! Ich bin erschüttert und wütend. Ich spüre: alles ist seit dem 7. Oktober anders geworden. Alle Gewissheiten sind weg. Auch bei den bislang die Annäherung an die arabische Bevölkerung in Israel und den Gebieten suchenden Israelis. Es herrscht größtes und berechtigtes Misstrauen.
Das auf sich gestellte Israel ist gleichwohl unfassbar widerstandsfähig, zäh, resilient– und ja, trotz allem, dem Leben verpflichtet. Das jüdische Volk gibt auch inmitten größter Bedrohung sein humanitäres Ethos nicht auf. Neben die Trauer gesellt sich der Wille, Leben zu schützen, Wunden zu verarzten und einmal vielleicht auch zu heilen. Tausende traumatisierter Überlebender der Massaker in den Kibbuzim und des Rave-Festivals finden Unterschlupf und werden therapeutisch betreut in den nun touristenleeren Hotels Eilats. Die neue Nationalbibliothek in Jerusalem wurde -trotz allem oder jetzt erst recht- vor wenigen Tagen eröffnet: Jüdische Bildung statt Erziehung zum Hass und ewiger Opfermythos auf der arabischen Seite. Bewegende Kunstaktionen, die die nach Gaza Verschleppten in die Mitte der israelischen Gesellschaft holen: Ihr seid bei uns, wir erwarten euch, ihr seid nicht vergessen!
Und -da sind sich auch diejenigen einig, die sich in Israel noch bis vor kurzem heftigst zerstritten hatten- es muss jetzt mit aller Entschiedenheit gemeinsam gegen die judenmordenden Banden von Hamas, Islamischem Dschihad und Co. vorgegangen werden. Die Israelische Verteidigungsarmee hat größten Rückhalt im ganzen Volk. Sogar in der Ultraorthodoxie vollzieht sich besonders seit dem 7. Oktober eine stille, aber für die Zukunft des Landes noch äußerst bedeutsam werdende Revolution: es steigt merklich die Bereitschaft, sich für das Land und die Gesellschaft in Armee und Arbeitswelt einzubringen.
Und doch: der 7. Oktober markiert eine in der Geschichte des neuzeitlichen Jüdischen Staates nie dagewesene Krise. Das Vertrauen der jüdischen Israelis, zumindest vor einem Pogrom im eigenen Land geschützt zu sein, hat einen kaum heilbaren Schaden genommen. Kann das Gründungsversprechen der Väter und Mütter des modernen Israel erneuert und geheilt werden?
Die Nationalhymne Israels, die Hatikva, bezieht sich an einer Stelle direkt auf einen Text aus dem Tenach, der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament. Es handelt sich um die Vision des Propheten Hesekiel in Kapitel 37, der mit seinem Volk ebenfalls in einer absoluten Krisensituation lebte, dem babylonischen Exil. In dieser Vision wird er durch die Geistkraft Gottes auf ein weites Feld gestellt, das voller Totengebeine liegt. „Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt.“ Unweigerlich steigen in mir bei diesen Worten die Bilder von Verwüstung, Schändung und Mord auf, die wir alle aus den massakrierten Kibbuzim und vom Rave-Festival gesehen haben und die wir nie vergessen werden können. Und die verdorrten Gebeine, die im Bibeltext das ganze Haus Israel repräsentieren, die sagen, wie ihnen zumute ist: „Unsere Hoffnung ist verloren!“ – „Awdah Tikwatenu!“ Dies ist ihr niederschmetterndes Selbstverständnis. Aber dann geschieht das Atemberaubende und Wunderbare: Im Auftrag Gottes weissagt der Prophet den vertrockneten Gebeinen, sie regen sich, es wachsen Sehnen und Fleisch und die Gebeine werden mit Haut überzogen und schließlich kommt die Ruach Adonaj, der Lebenshauch Gottes, in sie. Sie werden wieder lebendig und stellen sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer.
Gott lässt sein Volk Israel nicht im Stich.
Die Hatikva –„die Hoffnung“- wendet diese religiöse Hoffnung nun ins Säkulare, Innergeschichtliche und sagt:
So lange noch im Herzen, inwendig
eine jüdische Seele wohnt
und gen Osten, vorwärts
ein Auge nach Zion späht –
ist unsere Hoffnung noch nicht verloren.
Und als das Ziel der Hoffnung wird benannt:
Zu sein ein freies Volk in unserem Land im Lande Zion und Jerusalem.
„Frei“, ein freies Volk zu sein in unserem Land, das ist, neben Frieden und Leben ein weiterer Grundpfleiler jüdischer Identität. Frei zu sein von den Feinden, die einen hassen und einem nach dem Leben trachten, nur weil man jüdisch ist, so wie einst bereits der mörderische Amalek in der Bibel und dann in der Weltgeschichte immer wieder. Bis auf den heutigen Tag. Dann bedeutet „frei“ aber auch: einmal frei zu sein für ein Zusammenleben mit den dann ehemaligen Todfeinden. Die Hand Israels zum Frieden, zur sogenannten 2-Staaten-Lösung, zur Konvivenz – wie oft, und zwar seit dem Tag der Staatsgründung!- wie oft war sie nicht schon weitestgehend ausgestreckt und wurde doch immer wieder blutig ausgeschlagen. Das hat sich bis heute überhaupt nicht geändert. Ob einmal todesmutige palästinensische Führerinnen und Führer auftreten werden, welche ihrem Volk eine neue, positive, konvivente Identität einstiften, frei von der Erziehung zum Hass und ewigem revanchistischen Opfermythos, in guter Nachbarschaft mit dem Jüdischen Staat? Das kann man heute nur noch vage hoffen. Es wäre ein Segen für alle. Viele in der Zivilbevölkerung in Israel hofften dies auch und suchten in den vergangenen Jahrzehnten beständig Wege der Annäherung trotz wiederholter furchtbarer Rückschläge. Bis zum 7. Oktober 2023, der Zeitenwende.
Liebe Leserinnen und Leser, ich komme zum Schluss: es kann jetzt und in absehbarer Zukunft vor allem anderen und nur darum gehen, jüdisches Leben gegen seine Feinde zu schützen – sowohl in der Heimstatt des jüdischen Volkes ebenso wie in der Diaspora. In Köln. Oder Berlin. Oder Duisburg. Oder Essen. Oder Hamburg. Wo auch immer auf diesem Planeten. Denn vor dem Antisemitismus ist das Jüdische Volk nirgends sicher – und wohl noch nicht einmal auf dem Mond. Auch wir sind Hüter unserer älteren Geschwister, des von Gott zuerst und für alle Weltzeit bleibend berufenen Gottesvolks Israel.
Und wenn wir angesichts des monströsen Ausmaßes von Judenhass - in den unsozialen Medien, auf den Straßen, auf dem Arbeitsplatz, in den Schulen, und ja: auch in der Weltkirche!- manchmal Kraft und Mut verlieren, selbst wenn wir, wenn wir ehrlich zu uns sind, uns zuweilen eingestehen müssen: „Unsere Hoffnung, dass es einmal besser werden möge, geht verloren“ - „Awdah Tikwatenu“, so möchten wir uns doch von der Botschaft des Propheten inspirieren lassen und, wenn nötig auch gegen den Augenschein, an der Hoffnung festhalten.
Es ist die uralte und doch unverändert aktuelle Hoffnung, die bereits Frauen und Männer auch unseres Neuen Testaments bewegte -etwa Maria, die Mutter Jesu oder Zacharias, der Vater Johannes des Täufers. Und so möchte ich schließen mit den Hoffnungs-Worten aus dem Lobgesang des Zacharias (Lukas 1, Verse 68 ff.):
„Gelobt sei der Herr, der Gott Israels!
Denn er hat besucht und erlöst sein Volk (…),
dass er uns errette von unsern Feinden
und aus der Hand aller, die uns hassen (…),
dass wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde,
ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang (…).“
Pfarrer Markus Heitkämper